28 Jul Was du säst, wirst du ernten
D a n k e , dass alles seine Zeit braucht, um zu wachsen!
Es war einmal eine Knolle der Herbstzeitlosen. Sie lag zufrieden in einem Gartenhäuschen. «Es ist an der Zeit», sagte der Gärtner zu ihr. «Heute ist die Stunde für dich gekommen, das wahre Leben kennenzulernen.» «Deine rätselhaften Worte machen mir Angst», entgegnete die Knolle mit zitternder Stimme. «Das Leben zu lernen scheint mir nicht so verheissungvoll zu sein, wie du es sagst. Es ist so ungewiss, was aus mir werden wird. Stimmt es denn, dass man in die tiefe dunkle Erde muss und ganz schmutzig wird? In dem Gartenhäuschen, in dem ich bisher lebte, war alles sauber. Ich war bei meinen Freunden und fühlte mich geborgen.»
Der Gärtner erklärte weiter ganz liebevoll:»Du wirst dein Leben in dieser sauberen, wohl behüteten Umgebung nicht finden. Du wirst dich auf die Suche machen müssen, sonst vertrocknest du zu einer alten, dürren Knolle. Das Leben würde nie in dir aufbrechen, wenn du so bleiben willst, wie du jetzt bist. Du wirst es nur finden, wenn du bereit bist zu wachsen.»
«Aber wenn du mich eingräbst, dann sterbe ich», wehrte sich die Knolle der Herbstzeitlosen immer noch vehement.
«Was bedeutet schon sterben», entgegnete der Gärtner. «Du siehst es nur von EINER Seite. Aus dem Dunkel der Erde wächst dein neues Leben. Du stirbst nicht, du wirst WUNDERbar verwandelt! Je mehr du deine alte Gestalt aufgibst, desto mehr kann etwas Neues geboren werden. Etwas, das dir selbst und den Menschen gefallen wird. Werde die, die du wirklich bist! In dir steckt noch viel mehr, als du jetzt zu sehen vermagst. Du darfst nicht glauben, dass das, was du noch nicht erkennen kannst, deshalb nicht vorhanden ist. Alles Sichtbare wächst aus dem Verborgenen! Du bist ein Same voll blühender Zukunft, voll unendlicher Lebensmöglichkeiten, die tief verborgen in dir schlummern und nur darauf warten, geweckt zu werden.»
«Aber ist das Licht der Sonne denn nicht genug, um meine Lebenskraft zu wecken? Warum muss ich das Dunkel und die Schwere der Erde ertragen?» fragte die Knolle weiter.
«So einfach, wie du denkst, ist es mit dem Leben nicht», erklärte der Gärtner. «Manches, was dir heute weh tut und als Unglück erscheint, kann morgen dein Glück bedeuten. Nicht nur das Licht der Sonne fördert unsere Fähigkeiten und unsere Lebensenergie, sondern auch das Dunkel und die Erde helfen uns zum Wachsen und Reifen, wie nur sie es vermögen.» Nachdem er das gesagt hatte, grub der alte Gärtner ein Loch und pflanzte die Knolle ein. Kurze Zeit sah sie noch einen Lichtpunkt über sich, dann aber umgab sie undurchdringliche Finsternis. Die lange, beschwerliche Zeit des Wachsens begann …
«Jetzt ist es bald zu Ende mit mir», jammerte die kleine Knolle. «Es hätte so schön sein können, aber nun vergeht mein Leben in der Erde!» Und sie schien sogar Recht zu haben, denn ihre Gestalt veränderte sich mehr und mehr. Sie war nicht länger eine glatte, wohlgeformte Knolle, sondern begann runzlig und schrumpelig zu werden. Aber sie bemerkte auch, wie sich tief in ihr etwas regte und bewegte, von dem sie nicht sagen konnte, was es war. Dieses Gefühl in ihrem Inneren versetzte sie für viele Wochen in unbekannte Unruhe. Nach langen, traurig-düsteren Tagen durchfuhr sie ein heftiger Schmerz, als ob eine Lanze sie aus ihrer Mitte heraus durchbohren würde. Diese Wunde eröffnete ihr einen neuen Lebensraum. Der Panzer ihres bisherigen Lebens war durchbrochen. Es fühlte sich so an, als würde ein Schmetterling aus einem Kokon schlüpfen.
An die Stelle abgrundtiefer Finsternis trat wenig später taghelles, wärmendes Licht: Ihr erster Trieb hatte nämlich die Schale und den Erdboden durchdrungen. Das flimmernde Sonnenlicht, ein erfrischend prickelnder Luftzug und das vielstimmige Lied der Vögel umwarben sie nun.
«Das also meinte der Gärtner», dachte die heranwachsende Blume. «Wachstum betrifft das ganze Wesen. Mein äusseres Wachsen ist ein Gleichnis für etwas noch Grösseres und Schöneres, das tief innen in meiner Mitte beginnt und dann die Schale durchbricht, damit sich der Kern, mein eigentliches Wesen, entfalten kann.» Sanft streichelten die Sonnenstrahlen den hellgrünen Trieb, der sich wohlig räkelte und unter der Zärtlichkeit der Sonne wuchs. Es tat ihm gut, dass die Sonne ihn einfühlsam zum Leben lockte , ganz wie es seiner Kraft entsprach. Mit der Zeit bildete sich am Schaft des Triebes eine Verdickung. Die Blüte reifte und reifte.
«Noch lebst du nur für dich selber und verwendest deine ganze Kraft auf die Entfaltung deines Wesens», erklärte der Gärtner. Aber bald wirst du ganz offen sein für das Lächeln der Sonne, für die Schmetterlinge, für den Wind und den Regen. Du wirst Farbe und Duft und Freud in die Welt tragen, um diesen Garten für alle bunter zu machen. Dann wirst du blühen, kleine Blume. Und es wird keine einzige Blume im grossen Garten geben, die so ist wie du. «
«Es bereitet sich schon vor», flüsterte die Knospe. «Es ist, als ob sich in mir Schale um Schale schöbe. Aber nicht so wie in der Knolle. Die Schalen fühlen sich viel zarter und verletzlicher an, wie Schmetterlingsflügel. Wann ist der Tag gekommen, an dem ich meine Knospe öffnen muss?»
«Du musst so weit in den Himmel hineinwachsen, wie du in die Tiefe der Erde verwurzelt bist. Dann ist deine Stunde gekommen. Du wirst es spüren.» Bald würde das Knospengehäuse zu klein sein für die Blüte. Ihre Blätter beginnen schon, sich auszuspannen und auszudehnen. Die erwachende Herbstzeitlose versuchte, ihre Blütensegel wie Flügel zu weiten. Aber noch waren sie im Dunkel der Knospe gefangen und mussten mit aller Kraft drängen, um die behütende Knospe aufzubrechen. Das war nicht leicht. Jeder Riss in der Schale schmerzte ein wenig. Bald aber strömte helles Sonnenlicht durch die ersten Risse, ein wenig später begrüsste die junge Herbstzeitlose noch etwas zerknittert den sonnigen Tag. Langsam und vorsichtig tastend streckte sie ihre seidenen Blätter dem Licht entgegen. Sie liess sich von der angenehmen Wärme durchströmen bis in die letzten Fasern. Ein unbekanntes Glücksgefühl durchflutete sie, und sie empfand sich zum ersten Mal als ganz frei.
Sie fühlte sich so leicht wie das Licht und zugleich so schwer wie die Erde und spürte, dass beides – Himmel und Erde – als eine grosse Wirklichkeit zusammen gehören.
Ich sage euch die Wahrheit: Ein Weizenkorn, das nicht in den Boden kommt und stirbt, bleibt ein einzelndes Korn. In der erde aber keimt es und bringt viel Frucht, obwohl es selbst dabei stirbt. Johannes 12,24
No Comments